Kia

Korea sticht: Der neue Kia Stinger GT im ersten Fahrbericht

Wer sich in das Segment der gehobenen Mittelklasse mit einem vollkommen neuen Auto vorwagt, kann entweder nicht mehr alle Tassen im Schrank haben, muss lebensmüde sein oder hat ein verflucht gutes Fahrzeug entwickelt. Eines, das es mit Platzhirschen wie Audi A5 oder BMW 4er Gran Coupé zumindest mühelos aufnehmen kann, wenn es denn sein muss. Und, so viel kann sich jeder halbwegs Interessierte ausrechnen: die Platzhirsche werden es mit ihm aufnehmen wollen, werden es zerfleischen wollen, es am Boden liegen sehen wollen.

Also muss das Fahrzeug schon richtig gut sein, selbst wenn die Marketingabteilung betont, dass es bei weitem nicht um Stückzahlen in der Größenordnung von München oder Ingolstadt ginge, es mehr ein Imageträger sein soll, der die Marke nach vorne bringe, dennoch: es muss schon etwas damit auf sich haben, dass Kia sein neues Flaggschiff Stinger genannt hat. Und das zumindest optisch schonmal das tut, wonach es sich anhört: stechen. Ein unerhört gut aussehendes Auto ist es, das sich uns auf der Sonneninsel Mallorca präsentiert. Frontal mit einer gelungenen Mischung aus Aggressivität und Eleganz, breit, flach und tief auf dem Asphalt kauernd. Die Seitenansicht betont gestreckt mit einer langen Haube und einem fast noch längeren Überhang nach hinten. Kein Wunder, hier stehen immerhin 4,83 Meter koreanischer Stahl auf spanischem Boden. Und auch beim Heck geht man eigene Wege, ein Fastback mit interessanter Leuchtengrafik und großer Heckklappe.

Eigene Wege geht Kia auch beim Antrieb des stärksten Stinger, der den Zusatz GT trägt und in unserem ersten Fahrbericht auch im Fokus stehen soll. Sein 370 PS starker 3,3-Liter V6 Biturbo ist eine Eigenentwicklung, ebenso wie das Achtgangautomatikgetriebe, das auch das stattliche Drehmoment von 510 Newtonmeter über einen Allradantrieb mit variabler Kraftverteilung an alle vier Räder leitet. Die 100-Km/h-Marke soll bei erfolgreichem Kavalierstart nach 4,9 Sekunden fallen, die Höchstgeschwindigkeit (nicht abgeregelte) 270 betragen. Mit diesem Wissen nehmen wir im Innenraum Platz und werden auch hier nicht enttäuscht. Die serienmäßig mit Leder bezogenen Sportsitze besitzen aufblasbare Seitenwangen und passen so allen Kleidergrößen optimal. Lenkrad und Bedienelemente sind typisch Kia, wirken aber hochwertig und gut verarbeitet. Luftausströmer und Türverkleidungen erinnern an Mercedes-Benz, was nichts schlechtes sein muss. Lediglich die Kunststoffe unterhalb des Armaturenbretts könnten etwas hochwertiger sein.

Was uns auf den gewundenen mallorquinischen Landstraßen und dem Circuito Mallorca in Llucmajor allerdings herzlich wenig interessiert. Hier gilt stattdessen das alte Spiel: Pedal to the metal! Der doppelt aufgeladene Direkteinspritzer stürmt ansatzlos durch das Drehzahlband, entwickelt seine Kraft sehr linear und saugmotorartig, bleibt dafür klangtechnisch sehr zurückhaltend. Per Drehregler hinter dem Wählhebel lassen sich fünf verschiedene Fahrmodi einstellen, die – und das ist das Interessante – auch Einfluss auf die Kraftverteilung des Allradantriebs haben. So werden im Comfort- und Sportmodus standardmäßig 40 Prozent an die Vorder- und 60 Prozent an die Hinterräder geleitet. Im Sport-Plus-Modus sind es stattdessen 20 zu 80 Prozent und die Traktionskontrolle arbeitet an der ganz langen Leine. Drifts am Kurvenausgang sind so ein Kinderspiel und überhaupt, durften wir in dieser Klasse erst selten ein so fahraktives Auto bewegen.

Die Lenkung arbeitet hochpräzise und ist angenehm übersetzt, das Fahrwerk vermittelt schnell Vertrauen, der Stinger liegt dank langem Radstand mehr als ruhig auf der Straße, bleibt aber dennoch unheimlich behände. Ein Untersteuern ist nur durch extremen Geschwindigkeitsüberschuss am Kurveneingang zu provozieren, ansonsten hilft ein kurzer Gasstoß, um die Fuhre wieder gerade zu ziehen. Auch wenn 95 Prozent aller Kunden den Kia sicherlich nicht Strapazen auf der Rennstrecke aussetzen: er kann es – und fühlt sich dabei deutlich souveräner an als ein 440i Gran Coupé oder ein Audi S5, aber das soll ja nur am Rande eine Rolle spielen.

Einzig der Wandlerautomat macht allzu sportlichem Treiben schnell einen Strich durch die Rechnung. Manuelle Schaltbefehle werden zwar zügig und geschliffen umgesetzt, doch leider wird auch dann selbsttätig bei Erreichen der Höchstdrehzahl hochgeschaltet, wenn Schlupf an den Hinterrädern auftritt. Ungewünschter Leistungseinbruch am Kurvenausgang ist die Folge, doch diese Bevormundung des Fahrers kritisierten wir auch schon bei diversen Modellen des VAG-Konzerns, zumal sie, wir verweisen auf oben, 95 Prozent aller – ach, Sie wissen schon.

Dafür überzeugt der Kia Stinger in seiner hauptsächlich angedachten Eigenschaft als Grand Tourismo. Das adaptive Fahrwerk ist ausgewogen abgestimmt, liefert auch im Sportmodus mehr als ausreichenden Abrollkomfort und dafür kaum merkbare Seitenneigung. Der Kofferraum reicht locker für die große Reise zu zweit, die Rücksitze bieten ausreichend Platz für weitere zwei Mitfahrer. Lediglich die Kopffreiheit dort hinten ist bei Personen über 1,90 Meter etwas eingeschränkt. Das Soundsystem von Harman Kardon mit 15 Lautsprechern leistet sich keine Blöße, ein Attribut, was auf den Stinger insgesamt zutrifft. Und da haben wir noch nicht über den Preis gesprochen.

Fazit

Denn der ist wahrhaft heiß. 54.900 Euro ruft Kia für den Stinger GT auf – und da ist standardmäßig schon fast alles vorhanden, was die Aufpreisliste der vermeintlichen Konkurrenz hergibt. Für einen vergleichbaren 440i xDrive Gran Coupé kann man gut und gerne 20.000 Euro mehr ausgeben, doch wir hören schon die Stimmen der Unverbesserlichen: „Es ist doch nur ein Kia!“ Und das ist richtig. Aber es ist einer, der verflucht gut ist. Den man fahren sollte, bevor man ihn bewertet. Und sich vielleicht dann doch auf dem Weg zum Neuwagenkauf umentscheidet. Die Jungs von Kia hatten wirklich nicht mehr alle Tassen im Schrank, dass sie uns so lange auf den Stinger haben warten lassen.

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